03. November 2020

Bauernhofidylle oder die ganze Wahrheit: Was sollen wir unseren Kindern zumuten?

Weder Lehrpersonen noch Eltern scheint aufzufallen, dass beim Thema Bauernhof und Milch eine zentrale Perspektive fehlt: die der Tiere. Das stört Gastbloggerin Alma – als langjährige Primarlehrerin schlägt sie eine andere Vorgehensweise vor.

«Schülerinnen und Schüler können die Herkunft von ausgewählten Lebensmitteln untersuchen und über den Umgang nachdenken […].» So klingt das im neuen Lehrplan 21, wenn man sich die Lernziele bzw. die Kompetenzen anschaut, die Schüler*innen im Fach «Natur, Mensch, Gesellschaft» (kurz NMG) unter anderem erwerben sollen. 

Das Lebensmittel Milch wird oft im Zusammenhang mit dem Thema Bauernhof in der 1. oder 2. Klasse behandelt. Swissmilk bietet dazu eine Vielzahl an Infos und Materialien. Die Auswahl böte Stoff für ein ganzes Jahr nur zu diesem Thema. «Kuh – Kalb – Rind: Was ist der Unterschied?», «Besuch im Stall», «Melkleistung der Kühe» und ähnliche sind Teilbereiche aus dem Pool an Themen rund um das «weisse Gold». 

Nun ist die Weste der Milch ja mittlerweile nicht mehr ganz so weiss wie einst. Die Frage nach ihrer Gesundheit sorgte in den letzten Jahren häufig für Diskussionen. Und dass die moderne Milchprodukteindustrie in Zusammenhang mit der Massentierhaltung steht, ist inzwischen auch bei der breiten Masse angekommen. 

Ob man nun Milch mag oder nicht, für notwendig befindet oder nicht: Es braucht wie bei allen unsere Umwelt und Lebensweise betreffenden Themen eine kritische, ganzheitliche Auseinandersetzung. Diese differenzierte Auseinandersetzung müsste auch im Unterricht stattfinden. Das passiert allerdings meiner Ansicht und Erfahrung nach häufig nicht. Vielmehr werden Themen eindimensional behandelt, ohne dass den Kindern verschiedene Facetten und Sichtweisen aufgezeigt werden. 

In den Ausführungen zum Lehrplan wird betont, wie wichtig es ist, die Themen, Fächer und Bereiche in Verbindung zueinander zu vermitteln, um den Kindern ein vernetztes Denken zu ermöglichen. Im Vorschlag zur Zyklus- und Jahresplanung von NMG-Themen, die von Autor*innen der PH Luzern verfasst wurde, findet sich folgende wichtige Warnung:

«Von Stichworten als Grundlage für die Planung von Unterricht in NMG auszugehen [z.B. vom Stichwort Milch] birgt die Gefahr, unverbundenes Inselwissen bei den Lernenden zu produzieren, da die einzelnen Wissensbestände kaum oder gar nicht untereinander vernetzt sind. […] Fachliche Perspektiven und ihre Wissensinhalte können ausgehend von einem Stichwort addierend nebeneinander gestellt werden. Um bei Schülerinnen und Schülern jedoch ein vernetztes Verstehen von Phänomenen und Sachverhalten anzubahnen, ist ein perspektiven-übergreifender Ansatz erfolgversprechender.»¹

Beim Thema Milch und deren Produktion müsste konsequenterweise auch die Perspektive der Kuh und ihres Kalbes miteinbezogen werden. Das passiert weder auf den Arbeitsblättern von Swissmilk noch auf den Unterrichtsmaterialien von Schulverlagen. Zwar wird der Verdauungstrakt einer Kuh thematisiert, und dass sie erst ein Kalb gebären muss, um Milch «geben» zu können, und wie die Milch entsteht. Doch mit keinem Wort wird erwähnt, dass dieses Kalb getrennt von der Mutter aufwächst bzw. für Kalbfleisch bald in den Schlachthof gefahren wird.²

Die Welt der Bauernhöfe – und kein Wort darüber, wie es den Tieren dort (wirklich) geht

Auch beim Thema Bauernhof, das meist in der ersten oder zweiten Klasse behandelt wird, verzichten viele Lehrpersonen auf den so wichtigen Perspektivenwechsel. Thematisiert wird, welche Tiere auf Bauernhöfen gehalten werden und welchen Nutzen sie haben – und nicht, wie sie gehalten werden, wie es ihnen dabei geht und was nach der Haltung mit ihnen geschieht. So bleiben Schüler*innen mit unverbundenem Inselwissen zurück. Eine ganzheitliche Erschliessung des Themas und ein vertieftes Verständnis davon bleiben auf der Strecke. 

Der Lehrplan 21 spricht von 4 Handlungsaspekten:

  • Die Welt wahrnehmen
  • Sich die Welt erschliessen
  • Sich in der Welt orientieren
  • In der Welt handeln

Um sich in der Welt orientieren und entsprechend unseren Wahrnehmungen handeln zu können, braucht es das ganze Kartenbild, nicht nur Teile davon. Indem Lehrpersonen bei gewissen Themen bestimmte Bereiche davon beleuchten, verhindern sie, dass sich die Lernenden ausreichend orientieren können. Sie nehmen ihnen die Chance, ihrer eigenen Ansicht nach handeln zu können.

Wenn Kinder nur erfahren, was Tiere uns für Produkte «liefern», und nicht, was diesen Produkten vorangeht – was mit den Tieren hinter den Stalltüren und in den Metzgereien passiert – fehlt ihnen das Wissen, das sie bräuchten, um über ihr Handeln nachzudenken. Wenn im Unterricht nur von den herzigen Säuli und den flauschigen Bibeli die Rede ist und nicht davon, wie es diesen Babys ergeht, wenn sie gross oder überflüssig werden, bleibt lückenhaftes Wissen zurück. Das wäre, wie wenn man beim Thema Verkehr und Mobilität nur von den Vorteilen spricht, aber nicht auf die Gefahren und Unfälle eingehen würde.

Angepasst auf Alter und Entwicklung der Kinder sollten sie über alle Aspekte eines Themas informiert sein. 1.- und 2.-Klässler*innen sollten erfahren, was mit den Tieren auf dem Bauernhof passiert, wenn die Zeit des «Nutzens» gekommen ist. Dazu braucht es keine verstörenden Videosequenzen von Tiertransporten oder blutige Details aus dem Alltag eines Metzgers. Doch sollten sie zumindest die Wahrheit darüber erfahren, was die Hühner, Schafe, Kühe, Schweine und deren Kinder am Ende ihres Gastrechtes auf dem Bauernhof erwartet. Dass sie sterben müssen, damit wir sie in Form von Chicken Nuggets, Wienerli,  Kinderwageneinrichtung oder Schuhen konsumieren können. Und dass schon die Zeit auf dem Bauernhof für die Mehrheit der Tiere nicht so blumig ist, wie es ihnen das Unterrichtsmaterial vorgibt

Löchrige Wissensvermittlung

Seit ich mich mit der veganen Lebensweise auseinandersetze, stosse ich mich regelmässig an diesen bewusst in Kauf genommenen Wissenslücken in Bezug auf die Themen Bauernhof und Milch. Den Kindern wird Wissen vorenthalten, das ihnen zusteht, wenn sie zu kritisch denkenden, mündigen, mitfühlsamen und selbstverantwortlich handelnden Erwachsenen werden sollen. 

In den Ausführungen zum NMG-Unterricht der PH Luzern zur Frage, was guten NMG Unterricht ausmacht, steht: «Guter Unterricht in NMG geht von übergeordneten Fragestellungen aus.» Beim Bereich «Identität, Körper, Gesundheit…» und dem Kompetenzziel «Die Schülerinnen und Schüler können Zusammenhänge von Ernährung und Wohlbefinden erkennen und erläutern» könnte die übergeordnete Fragestellung lauten: «Wie viel Essen ist genug?» 

«Da die zur Beantwortung der Frage hinzugezogenen Wissensbestände und Handlungsaspekte sich alle auf diese zentrale Fragestellung beziehen, ist bei den Kindern eine Vernetzung des erworbenen Wissens zu erwarten, das zu vertieftem Verstehen führen soll», heisst es dazu weiter.

Beim Thema Bauernhof könnte die übergeordnete Frage lauten: «Wie (er)geht es Tieren auf einem Bauernhof?» Oder «Warum nennen wir einige Tiere ‹Nutztiere› und andere ‹Haustiere›?» Um der Beantwortung dieser Fragestellung wirklich nachzugehen, müssten sich auch die Lehrpersonen der Wahrheit stellen. Das geht nicht, ohne das eigene Ernährungs- und Konsumverhalten zu reflektieren. Viele Lehrpersonen, so meine Erfahrungen, sind dazu nicht bereit. Doch wie sollen Kinder die Wahrheit erfahren, wenn diese von den Erwachsenen selbst geleugnet oder schlicht verdrängt wird? Wie sollen Kinder zu informierten, handlungsfähigen Bürger*innen werden, wenn wir sie in der Schule mit blinden Flecken zurücklassen? Wenn wir sie mit Halbwahrheiten und bunt gefärbten Szenarien einer Bauernhofidylle abspeisen, die es in der Realität nicht gibt? Zu Schnitzel, Spiegelei und Käsesandwich gehört der Tod unserer Mitlebewesen. Da gibt es nichts schönzureden. Wir sind dafür verantwortlich, auch wenn wir selber das Leid nicht verursachen, ja oftmals auch nicht wollen. Mit unserem täglichen Handeln bzw. unserem Wegschauen und Ausblenden machen wir uns mitverantwortlich. Dieser Mitverantwortung sollten sich Kinder bewusst sein. Was sie später aus dem vertieften Verständnis aus der Primarschulzeit machen, ob sie ihre Ernährungsweise anpassen oder nicht, ist ihre Entscheidung. Doch zumindest verfügen sie alle über das nötige Basiswissen, um überhaupt eine Entscheidung treffen zu können. Für oder gegen eine ausbeuterische Konsumweise. Für oder gegen einen achtsamen Umgang mit Tieren. Für oder gegen die Bewahrung einer intakten Umwelt. Für oder gegen das eigene Gewissen. 

Quellen:

¹ www.phlu.ch/_Resources/Persistent/90e264025c47ba9d251bb28742f4dda3c12a24c5/nmg_zyklus_jahresplanung.pdf, aufgerufen am 8. Oktober 2o2o

²www.entdecke.lu.ch/show/5-6-klasse/Milch

Seit 12 Jahren unterrichtet Alma Pfeifer Primarschüler*innen. Am wichtigsten ist ihr nach wie vor, ihnen Inhalte zu vermitteln, die sie fürs Leben und nicht nur für Prüfungen brauchen können. «Fürs Leben lernen» können sie ihrer Ansicht nach aber nur, wenn wahrheitsgetreu gelehrt wird.