Kann die vegane Ernährung die Klimaerhitzung in der Schweiz bremsen?
Die vergangenen sechs Jahre waren die wärmsten seit Messbeginn. Was bedeutet das für uns in der Schweiz? Und kann der vegane Lebensstil diese Krise aufhalten? Das haben wir Agrarökonomin Priska Baur gefragt.
Der Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change; IPCC) bündelt seit 1988 wissenschaftliche Erkenntnisse über den Klimawandel. Etwa alle sieben Jahre finden sich in diesem Rahmen hunderte von Wissenschaftler*innen zusammen, um den sogenannten IPCC-Bericht zu schreiben, der auf tausenden wissenschaftlicher Publikationen basiert.
Dieser Bericht soll Regierungen auf der ganzen Welt befähigen, fundierte Entscheidungen in Bezug auf den Klimawandel zu treffen. Er thematisiert u.a. Zukunftsszenarien und mögliche Auswirkungen auf unsere Umwelt, und auch der gerade vor ein paar Tagen erschienene 6. Bericht zeigt erneut: Es geht nicht mehr länger nur um zukünftige Szenarien – es geht um das Hier und Jetzt, denn wir stecken bereits mitten in der Krise.
Agrarökonomin Priska Baur verfolgt seit fast vier Jahrzehnten die Agrarpolitik und den Agrarstrukturwandel in der Schweiz und forscht im Bereich ressourcenleichte und tierschonende Esskulturen. Sie arbeitete u.a. an der ETH Zürich und an der ZHAW am Institut für Umwelt und natürliche Ressourcen und leitete das Forschungsprojekt NOVANIMAL.ch, das sich dem Thema «Innovationen für zukunftsorientierte Ernährung und Tierproduktion» verschrieben hat und vom Schweizerischen Nationalfonds SNF gefördert wurde.
Priska Baur, Sie haben sich in Ihren Forschungsprojekten u.a. damit beschäftigt, wie in unserer Gesellschaft, in der die Konsument*innen ihr Essen frei wählen, die Ernährungsgewohnheiten ressourcenleichter (und gesünder) werden können. Was bedeutet konkret «ressourcenleichter»?
Priska Baur: Oft fallen in dieser Diskussion negative Wörter wie «Verzicht» oder «sparen». Als wir 2015 ein Projekt beim SNF einreichten, wollten wir unbedingt etwas Positives reinbringen. Es sollte um das «gute Leben» gehen. «Ressourcenleicht» heisst, die Umwelt weniger zu belasten und weniger natürliche Ressourcen zu beanspruchen. Das beinhaltet Boden, Wasser, Luft, biologische Vielfalt, aber auch fossile Energieträger und die Fähigkeit der Umwelt, mit Belastungen umzugehen. Es geht darum, die natürlichen Ressourcen sinnvoll zu nutzen und möglichst wenig zu belasten.
Im jüngsten IPCC-Bericht geht es auch darum, dass die Erhitzung den Verlust von Biodiversität und die Schädigung von Ökosystemen vorantreibt und dies wiederum zu einem stark überstrapazierten Ernährungssystem führt. Was sind denn die Auswirkungen auf das Ernährungssystem?
Extremereignisse – die wir diesen Sommer ja krass erleben – machen Ernährungssysteme auf der ganzen Welt viel verletzlicher. Die Lage wird unsicherer, es ist weniger klar, mit welchen Erträgen man rechnen kann. Am Beispiel von diesem Sommer zeigt sich: Gewisse Kulturen überleben, profitieren vielleicht sogar, während andere hohe Ertragseinbussen einfahren. Primär ist die pflanzliche Produktion stark betroffen. Tatsächlich lässt sich generell sagen: Der Pflanzenbau ist sehr viel verletzlicher als die Tierproduktion. Zwar ist die Tierproduktion auf Ackerfutter wie Weizen und Soja angewiesen – vor allem die Schweine- und Geflügelmast –, aus Sicht eines einzelnen Schweizer Betriebs sind die Ertrags- und Einkommensrisiken bei ausschliesslichem Pflanzenbau aber grösser. Mit dem Klimawandel werden die weltweite Kooperation in der Agrarproduktion und der Handel noch wichtiger, um die Versorgung aller mit genügend Nahrungsmitteln zu sichern. Auch wenn es im Allgemeinen negativ beurteilt wird, wenn Lebensmittel von weither kommen.
Erfüllt denn die Schweizer Landwirtschaft heute schon ihre Umweltziele?
Die Gesamtschau des Bundesrats von 2017 zeigt, dass von 13 politisch definierten Umweltzielen noch keines vollständig erfüllt wurde. Was sehr viel bringen würde, wäre der Rückbau der Tierbestände. Dies scheint jedoch für das Bundesamt für Landwirtschaft ein Tabuthema zu sein. Seit dem Jahr 2000 steigt die Fleischproduktion sogar wieder an, auf der Basis umfangreicher Futtermittelimporte, v.a. wegen der zunehmenden Pouletmast. Auch im letzten Jahr gab es wieder 5% mehr Hühner.
Auch der Konsum steigt, denn Poulet gilt als ressourceneffizient und gesund. Diese Entwicklung ist fragwürdig – es kann nicht darum gehen, eine Fleischsorte durch eine andere zu ersetzen. Besser von allen Tieren weniger essen: weniger Geflügel, weniger Schwein, weniger Rind.
Was für Anpassungen müssen in der Schweiz erfolgen, damit wir nicht mehr zur Klimaerhitzung beitragen?
Wir müssen die Tierbestände auf ein Niveau senken, das die Schweizer Ökosysteme verkraften können. Jedes Tier, das von Futter lebt, das nicht hier wächst, ist ein Tier zu viel. Doch selbst ohne importierte Futtermittel wären die Tierbestände aus Umweltsicht noch zu hoch. Das Zauberwort heisst «standortangepasste» Produktion.
Mir ist aber wichtig, dass man nicht einfach die Landwirtschaft beschuldigt. Wer sind die treibenden Kräfte dahinter? Bei der Pouletproduktion sind die Mäster im Prinzip die Handlanger von Micarna, Bell & Co, also vor allem Migros und Coop, deren Marktanteil 80% ausmacht. Sie sind es, die die Produktionsplanung machen und bestimmen, wann wie viele Tiere eingestallt und geschlachtet werden, damit sie zur richtigen Zeit bei den Konsument*innen landen. Und dort geht es gleich weiter: Ein grosser Teil der Schweizer Bevölkerung ist ja durchaus sensibilisiert; so glauben viele, mit dem Konsum von Poulet etwas für den Klimaschutz zu tun – nicht wissend, dass sie genau diejenige Produktion fördern, die in der Schweiz und weltweit am stärksten wächst. So ist die Pouletmast der stärkste Treiber des globalen Sojaanbaus, auch das ist kaum bekannt.
Und was wäre für die Umwelt das beste, wenn die Schweizer*innen weiterhin gleich viel Fleisch essen würden?
Wenn man die Schweizer Produktion nun dem Standort anpassen wollte, aber sich die Esskultur nicht ändert, also die Leute weiterhin gleich viel Fleisch essen, wäre es tatsächlich besser, diese zusätzlichen Fleischmengen nicht in der Schweiz zu produzieren. Schaut man rein auf die Umwelt, würden wir lieber von dort Fleisch importieren, wo auch die entsprechenden Futterflächen vorhanden sind, anstatt jedes Jahr hunderttausende Tonnen Weizen, Soja und anderes für die Ernährung der Schweizer Tierbestände zu importieren. Vereinfacht gesagt: Für die Umwelt wäre dann das Poulet aus Brasilien besser. Dort gibt es auch ohne Abbrennen des Urwalds viel mehr Landwirtschaftsflächen, und es macht Sinn, dass die Nährstoffe in Mist und Gülle da wieder zur Verfügung stehen, wo sie dem Boden beim Futteranbau entzogen werden.
Solche Überlegungen treffen heute, wo alles (vermeintlich) regionale als nachhaltig gilt, natürlich auf vehementen Widerspruch. Allein schon die Idee, dass es besser sein könnte, Poulet aus Brasilien als aus der Schweiz zu essen, würde viele Leute «an die Decke bringen». Nebst Umweltbedenken wäre auch der Tierschutz sofort Thema. Obwohl das bei Geflügel eine kleinere Rolle spielt: Merkt ein Mastküken, ob es eines von 1’000, 10’000 oder 100’000 ist? In seinem Leben von 40 Tagen? Bei der Pouletmast sind meiner Meinung nach die Gemeinsamkeiten einer ethisch höchst fragwürdigen industriellen Produktion viel bedeutsamer als die allfälligen Unterschiede zwischen der Schweiz und anderen Ländern. Auch stammen alle Mastküken, sogenannte Masthybriden, von denselben wenigen globalen Unternehmen.
Aber klar, aus tierethischer Sicht wäre es auf jeden Fall das beste, gar keine Hühner zu essen.
Wie gross sehen Sie das Potential, dass eine vegane Ernährung dazu beiträgt, der Klimakrise entgegenzuwirken?
Überall dort, wo das Tierfutter die menschliche Ernährung direkt konkurrenziert, gilt: je weniger Fleisch, desto besser. Weizen und Soja etc. direkt zu essen, anstatt sie durch das Tier in viel kleinere Mengen Nahrungsmittel zu verwandeln, schont die natürlichen Ressourcen. Der Weg über das Tier «vernichtet» Kalorien.
In der Schweiz kommt das meiste Fleisch von Schweinen und Hühnern, Kühe machen nur etwa einen Viertel aus. Wer also etwas tun möchte, sollte kein Schweinefleisch und kein Geflügel mehr essen.
Bei Wiederkäuern muss man unterscheiden: Sympathisch wäre, wenn Rinder, Schafe und Ziegen sich allein von Gras ernähren würden, das wir Menschen eh nicht verdauen können. Auf der Basis von Wiesen- und Weidefutter könnte so eine grössere Vielfalt von Nahrungsmitteln produziert werden. Doch die Realität ist, dass auch das Rindvieh so auf Leistung gezüchtet ist, dass es Kraftfutter braucht, um diese Leistung zu erbringen und gesund zu bleiben. Kraftfutter, das wir Menschen grösstenteils direkt essen könnten.
Das globale Problem dahinter ist die Entkopplung von Milch- und Rindfleischproduktion, ähnlich wie beim Geflügel mit den Eiern und dem Pouletfleisch.
Wie würde denn aus Umweltsicht eine ideale Rindviehhaltung aussehen?
Die Treibhausgasemissionen von Rindfleisch sehen viel besser aus, wenn Milch- und Fleischproduktion kombiniert werden. Dazu braucht es sogenannte Zweinutzungsrassen, die robust und langlebig sind, und die man nicht schon nach fünf Jahren schlachtet, wie das heute geschieht. Eine solche Kuh gibt weniger Milch, benötigt aber auch kaum Kraftfutter. Die Kälbchen können zu Rindern heranwachsen und erst im Alter von zwei Jahren geschlachtet werden. Kalbfleisch gibt es in einem solchen Produktionssystem keines mehr.
Wenn sich aber nun alle Menschen auf dieser Welt ab heute vegan ernährten – was hätte das für Auswirkungen?
Das wäre natürlich ein Schock für die ganze Branche. Die Schweizer Landwirtschaft ist auf die Tierproduktion spezialisiert, von da kommt das meiste Einkommen. Im Pflanzenbau ist weniger Wissen vorhanden. Das gehört halt nicht zur Identität der Schweizer Bauern.
Dafür wäre das Gülleproblem gelöst. Wir hätten dann sogar zu wenig Dünger für die Pflanzenproduktion, und zu dieser Herausforderung – Hofdüngermangel statt -überschüsse – gibt es kaum Forschung. Die bio-vegane Landwirtschaft ohne Tiere und mit intelligenten Fruchtfolgen steht ganz am Anfang. Woher kommen Nährstoffe ohne Tiere, wenn keine Mineraldünger eingesetzt werden?
Ein anderes verbreitetes Argument ist das Grasland, das ohne Tiere nicht mehr genutzt wird. Es wird befürchtet, dass es verbuschen und verwalden und die Biodiversität zurückgehen würde. Ich bin der Meinung, dass sich das nicht negativ auswirken muss: Erstens kommt der grösste Teil des Fleisches von Schweinen und Hühnern aus industrieller Produktion, die nicht von Gras leben, und zweitens könnte das Grasland auch anders gepflegt und genutzt werden. Auch zu dieser Problemstellung kenne ich keine unabhängige Forschung.
Es lässt sich also sagen: Die Schweiz ist noch nicht parat dafür, dass wir mit dem Konsum von Tierprodukten aufhören und uns ressourcenleicht ernähren. Doch momentan ist die Tierproduktion viel zu hoch.
Genau, wir müssen den Tierkonsum auf jeden Fall reduzieren. Auch bei einem deutlichen Rückgang der Tierbestände gäbe es noch lange nicht das Problem von zu wenig Dünger. Jeder Mensch, der sich vegan ernährt, trägt zur Entlastung der Umwelt bei. Man geht oft von extremen Annahmen aus, nach dem Motto «alle oder niemand». Doch wenn wir von der heutigen Realität mit sehr vielen tierischen Nahrungsmitteln ausgehen, so gilt ganz klar: je mehr Menschen sich vegan, vegetarisch oder wenigstens flexitarisch ernähren, desto besser. Wir sind noch weit weg davon, ganz mit der Tierproduktion aufzuhören, aber bis dahin hat es nur Vorteile, weniger Tiere zu halten und zu essen.